Brasilien verstehen – von Eckhard Ernst Kupfer*

Eigentlich glaubte ich das Land zu verstehen. Lebe seit 40 Jahren hier, arbeitete viele Jahre im Außenhandel, seit 22 Jahren als Journalist und seit 12 Jahren als Historiker, habe das Land von Süden bis Norden bereist, mit Menschen aller Schichten gesprochen und teilweise zusammen gelebt, aber derzeit kommt es mir mal wieder vor als lebe ich in einem fremden Land. Wer regiert hier eigentlich? Der Präsident, der als solcher nicht gewählt wurde, mit seinen ständig wechselnden Ministern, deren Namen kaum mehr jemand kennt, der Kongress der sich einesteils selbst zerfleischt und andererseits völlig unberechenbar ist, da 35 Parteien nie zu einer Einigkeit finden und Mehrheit erhält wer bessere Versprechen und Geschenke macht. Die Justiz, die eigentlich für Sauberkeit im Umgang mit den Gesetzen sorgen sollte, aber sich mehr und mehr politisiert und sich ihre Beweise bei zweifelhaften politischen oder Wirtschaftsführern holt, die dafür fast straffrei ausgehen?

Es ist recht schwierig derzeit das Land zu verstehen. Das mag auch der Grund sein, weshalb das Volk erstaunlicherweise recht still hält und es kaum zu Massendemonstrationen oder Streiks kommt, auch diese werden sehr verhalten und oft nur pflichtbewusst durchgeführt, weil die unzählbaren Gewerkschaften sie dazu drängen. Diese widerum verhalten sich recht ruhig, erhalten sie doch ihre Gelder aus der Staatskasse, die dafür jedem Arbeiter und Angestellten einen Tageslohn pro Jahr aus der Tasche zieht. Gegenleistung? Keine.

Dies alles zeigt daraufhin, dass es sich um ein morbides Staatssystem handelt, das eigentlich nur durch den Konsum von 200 Millionen Menschen zusammengehalten wird. Da diese täglich versorgt werden müssen und die Meisten auch pünktlich ihre Rechnungen bezahlen ist jedenfalls garantiert, dass die Mehrheit mit Strom versorgt wird, das Wasser noch fließt, die Supermärkte gut bestückt sind, dass Zapfsäulen noch Sprit abgeben und die Ampeln noch funktionieren. Ja dass selbst  noch regelmäßig Fussball im Land gespielt wird und die Zuschauer sogar mit öffentlichen Verkehrsmitteln rechtzeig zu den Stadien kommen.

Wenn man es so sieht, ist doch alles in Ordnung. Sogar die Inflation ist auf ein erträgliches Maß zurück geschraubt worden, die Verkehrstoten und Kriminalzahlen haben auch nicht zugenommen, obwohl sie immer schon exorbitant hoch sind für ein Land das eigentlich im Frieden lebt.

Im Prinzip gibt es nur zwei negative Aspekte: mit 14 Millionen Arbeitslosen eine extrem hohe Zahl, die neue Investitionen weitgehend verhindert, und eben die morbide politische Führung, die so mit sich selbst beschäftigt ist, dass sie Volk und Land vergisst. Wozu benötigt man die dann noch?

*Eckhard Ernst Kupfer ist deutscher Journalist, Direktor des Martius-Staden-Instituts in São Paulo, Herausgeber der Jahrbücher des Instituts, Mitautor von “Fünf Jahrhunderte deutsch-brasilianische Beziehungen”, Kommentator der Radiosendung AHAI – Die deutsche Stunde der Gemeinden > Block 05 und Kolumnist bei www.brasilalemanha.com.br.
E-Mail: ekupfer@martiusstaden.org.br