Situationsanalyse der Gegenwart – von Eckhard E. Kupfer*, Martius-Staden-Institut, São Paulo

Kupfer

Nach dem unruhigen 20. Jahrhundert, das bis in die zweite Hälfte die grausamsten Vernichtungskriege erlebte, sehnte sich der größte Teil der Bevölkerung, aber uch der Politiker nach Frieden. Dieser Frieden war aber sehr brüchig und wurde durch regionale Auseinandersetzungen immer wieder auf den Prüfstand gestellt. Es ist aus heutiger Sicht dem Umstand zu verdanken, dass die Erde zwei konträre Machtblöcke besaß, die sowohl in der Einflusssphäre als auch in ihrer militärischen Ausstattung nahezu gleich stark auftraten. Dazu kam die latende Erinnerung an die große nahezu sechsjährige Schlacht, die beide Mächte, trotz vorhandenem Waffenarsenal, vor dem ultimativen Einsatz ihrer Nukleardwaffen zurückschrecken ließen. Beide Blöcke versuchten ihren Machteinfluss nicht nur zu erhalten, sondern nach Möglichkeit auszuweiten, und dies besonders in den Ländern der noch nicht sehr entwickelten Teile dieser Erde. Dadurch entzündeten sich zwar immer wieder regionale Kriegsschauplätze und militärische Auseinandersetzungen, aber die direkte Konfrontation beider Mächte gab es nicht. Bei den Volksaufständen in den osteuropäischen Satellitenstaaten der UdSSR-Sphäre, in den 1950er und 1960er Jahren, wäre es den Amerikanern und ihren Verbündeten nie eingefallen direkt zu intervenieren. Es hätte leicht zum 3. Weltkrieg führen können. Insofern war die Aufrüstung beider Seiten mit Atomwaffen friedensfördernd, denn keiner wollte den ultimativen Schlag initiieren. Einer der kritischten Momente entstand im Jahr 1962 als die Sowjetunion versuchte auf der Karibikinsel Kuba Raketen mit atomaren Sprengköpfen zu installieren, die dann direkt auf die USA gerichtet worden wären. Es war einer der  Augenblicke der die kontrollierte Spannung der beiden Antipoden zur Explosion hätte bringen können. Die amerikanische Seite zeigte Härte und damit wurden die Raketen wieder  abtransportiert.

Dieser Zustand des sogenannten kalten Krieges dauerte bis in die späten 1980er Jahre an. Allmählich wurde sichtbar, dass das kommunistische System mit seiner staatlichen Planwirtschaft nicht mehr haltbar war. Es war nicht mehr zu finanzieren und in mehreren Satellitenstaaten, besonders in Europa, entstand eine zwar friedliche, aber effiziente Volksbewegung, die die staatliche Bevormundung nicht mehr akzeptierte. Die erste Reaktion der sowjetischen Führung war die Entscheidung zum Glasnost, einer schrittweisen und kontrollierten Lockerung, die in Richtung Demokratie führen sollte. Doch genau dieser Schritt zeigte die Schwäche des Systems und ermutigte Freiheitsbewegungen in anderen Ländern, wie Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR die Grenzen der Bevormundung zu überschreiten. Damit fiel zwischen 1989 und 1990 der Sowjetblock auseinander. Dadurch entstand zwar eine Befreiung der Länder Osteuropas und deren Bürger von einem zwangsverordneten Diktatursystem, aber die Ausbalanzierung der Welt bestand nicht mehr. 

Im Westen wollte man den Bürgern nun Glauben machen, dass damit ein langer Frieden entstehen würde. Die amerikanische Weltmacht betrachtete sich als einzige Alternative und als Kontrolleur und Führungsmacht der gesamten Erde. Intelligenterweise versuchte man zwar vermeintlich gute Beziehungen zum Rest des Sowjetreichs, zu Russland, aufzubauen und gemeinsam weltpolitische Entscheidungen zu fällen, aber das gelang nur bedingt. Die demokratische Entwicklung fand im Osten nur beschränkt statt. Zwar konnte als größter Erfolg die deutsche Wiedervereinigung gefeiert werden, auch Länder wie die baltischen Staaten, Polen, die Tschechische Republik, die aber recht bald in zwei Teile verfiel, bedingt Ungarn, Rumänien und Bulgarien gingen einen demokratischen Weg. Mit den ehemaligen Sowjetrepubliken gab es eine recht komplizierte Entwicklung. Einmal war der Einfluss Moskaus nach wie vor präsent, zweitens hatten diese Länder keinerlei Erfahrung in Demokratie, auch das Volk hatte nie in einer Demokratie gelebt. So entstanden entweder halbdemokratische Länder die von korrupten Politikern und Oligarchen kontrolliert wurden, oder neue regionale Diktaturen wie Weissrussland oder Kasachstan.

Die brodelnden Konflikte im Nahen Osten, waren ein konstanter Faktor, da der Staat Israel von seinen Nachbarn nicht akzeptiert wurde, und dieser es wiederum nicht verstand das Palästina-Problem zu lösen. Zwar suchte die USA ein Interessen- und Zweckbündnis mit Saudi-Arabien und den Emiraten einzugehen, das jedoch nicht immer erwidert wurde. Schaffte sich aber mit der islamischen Revolution im Iran einen neuen regionalen Feind, der nicht zu unterschätzen war. Gerade in dieser so sensiblen Region setzte die Weltmacht in Washington  offensichtlich auf die falschen Pferde und erhielt von dort ihre schlimmste Attacke seit Pearl Harbor 1941. Der 11.9.2001 wird als Wendepunkt in die Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen. Statt einer langfristigen friedlichen und offenen Welt, warf dieser Anschlag die Völkergemeinschaft um mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Die geplante freiheitliche Globalisierung wurde erst einmal wieder zurückgeschraubt, zumindest im Personenverkehr. Die Wut und die Reaktion der USA kann nur mit der Reaktion eines angeschlagenen Boxers verglichen werden. Es folgte ein Rundumschlag im Nahen und Mittleren Osten, unter dem die Welt bis heute noch zu leiden hat. Der Einmarsch im Irak 2003 destabilisierte dieses Land völlig, ohne es je wieder zu befrieden, sorgte für das Entstehen der Bürgerkriegsmächte in Syrien, einem Bürgerkrieg der bis heute anhält, machte den Libanon zu einer Basis für Terroristen, brachte Unruhe in ganz Nordafrika und löste kaum einen Konflikt durch ein positives Ergebnis ab. Im Gegenteil, die schwelenden Konflikte im Nahen und Mittleren Osten und dem nördlichen Afrika schlugen immer mehr Richtung Europa über, das sich viel zu lange in Sicherheit wiegte und glaubte die regionalen Konflikte würde es nicht berühren. Die regelmäßigen Terroranschläge ebenso wie die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 haben uns eines Besseren gelehrt.

Man kann jedoch als Ausgangspunkt dieser heutigen Bewegung, der nunmehr auch Europa verändern wird, die fehlgeschlagene amerikanische Politik im meridionalen Bereich bezeichnen. So wie Adolf Hitler es versäumt hat vom Feldzug Napoleons nach Russland im angehenden Winter zu lernen, hat es die USA versäumt aus dem zehnjährigen sowjetischen Feldzug in Afghanistan Schlüsse zu ziehen. Viele unnötige Tote auf beiden Seiten und ein unstabiles Land am Hindukush ist heute das Ergebnis.

Wenden wir uns kurz Lateinamerika zu, das Gott sei Dank keine bedeutende Rolle in der Weltpolitik spielt. Dies meine ich nicht ironisch, sondern sehr positiv betrachtet. Wer heute auf dem Tablett der Weltpolitik eine Rolle spielt, ist mehr gefährdet als das Land das in einer periphären Region liegt. Verglichen mit den Ländern im vorderen Orient geht es Latein-Amerika gut, wenigstens politisch betrachtet. Die einzige militärische Auseinandersetzung in der Region mit der Farc in Kolumbien ist dabei befriedet zu werden. Zwar hat die Demokratie in Venezuela diktatorische Züge angenommen, aber die Unfähigkeit des Nachfolgers von Hugo Chavez wird ihn früher oder später aus dem Amt jagen. Auf ein hungerndes Volk kann man nicht bauen. Ansonsten haben zumindest die östlichen Länder Südamerikas, und das sind die größten und wirtschaftlich stärksten, innenpolitische und ökonomische Schwierigkeiten, die sie einfach selbst lösen müssen um vorwärts schauen zu können. Mit der Weltpolitik selbst haben sie wenig zu tun, trotz ihrer territorialen Größe.

Schauen wir aber in die Zukunft dieser Erde, so müssen wir uns mit dem Fernen Osten Asiens beschäftigen. Jeder Geschäftsreisende bemerkt rasch, dass das asiatische Becken beginnend von Indien, über Thailand, Singapur,Malaysia, Indonesien bis Korea, China und Japan eine eigene Welt darstellt, die ihre eigene Entwicklung geht und den Fortschritt, trotz aller Schwierigkeiten mit einer Dynamik und Entschiedenheit angeht, die den Rest der Welt fast vergessen läßt. Auch dort hat man Problemfelder, siehe die Ungleichheit in Indien, Bangladesch oder selbst in China, aber das wird irgendwie administriert, Prioritäten werden gesetzt und die Nationen entwickeln sich weiter. Nicht jeder Staat dort ist mit unseren demokratisch abendländischen Werten zu messen, aber sie gehen vorwärts, haben ein wirtschaftliches Wachstum, leben ohne kriegerische Konflikte mit einander, selbst das große China benützt Taiwan als Werkstatt. Wer sich nicht einfügt ist Nordkorea, aber hier lebt noch das Blockdenken, heute zwischen China und der USA. Solange die USA Südkorea unterstützen und dort Militärbasen unterhalten, solange stützt Peking Nordkorea. Ein politisches Schachspiel.

Perspektive:

Die derzeit größte Sorge sowohl Europas als auch Nordamerikas geht von einer kleinen, wilden und unberechenbaren Gruppe aus: dem Islamischen Staat (IS). Diese pseudomilitärische Gruppe, welche leider von erz-konservativen arabischen Staaten unterstützt und finanziert wird, terrorisiert heute einen großen Teil der westlichen Welt und zeigt damit die Anfälligkeit der abendländisch-demokratischen Systeme auf. Sie schleusen unscheinbare Personen in die Länder ihrer Ziele ein, oft sind es Bürger dieser Länder, die nur in Syrien oder dem Irak ausgebildet und  einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, um dann im Namen  Allahs und des Islams selbstmörderische Terrorakte zu verüben, die hunderte unbeteiligter Menschen vernichten. Was zurückbleibt, ist Schrecken, Entsetzen, Angst und Unsicherheit. Zu lange hat sich Europa in Sicherkeit gewogen. Die Grenzen der demokratischen Freiheit wurden erreicht. Seit dem 11. September 2001 entstand weltweit eine Sicherheitsindustrie die Flughäfen und öffentliche Einrichtungen schützen soll, die Überwachungssysteme installiert hat und Milliardenkosten verursacht. Positiv gesehen hat diese neue Dienstleistung Arbeitsplätze geschaffen, welche die traditionelle Produktionsindustrie abgebaut hat, doch die Kosten werden von der Gesellschaft getragen und verteuerten sowohl Reisen als auch die Benützung sonstiger öffentlicher Dienstleistungen.

Hinzu kommt nun in den letzten Jahren der Flüchtlingsstrom aus Syrien und verschiedenen afrikanischen Staaten, die scheinbar nicht befriedet werden können. Diese Welle wird Europa ebenso verändern wie die Völkerwanderung nach dem 2. Weltkrieg, nur mit dem Unterschied, dass damals hauptsächlich Europäer aus einem ähnlichen Kulturkreis und einer gleichen Religionsauffassung im Westen eine neue Heimat suchten, während es sich bei den derzeitigen Flüchtlingen um Menschen handelt die aus einer völlig anderen Kultur mit teilweise archaischen Werten kommen. Die Eingliederung und Anpassung wird Europa verändern. Ob zum Besseren oder nicht, wird man frühestens in ein bis zwei Generationen bewerten können. Doch die sofortige Veränderung macht sich in vielen Regionen und Gemeinden bemerkbar: Die unbedenkliche Freiheit und Sorglosigkeit westeuropïscher Demokratien wird es nicht mehr geben.

Dazu kommt, dass die westlichen, demokratischen Staaten sich heute auf einem sozialen  Selbstverwirklichungsstand befinden, der kaum mehr übertroffen werden kann. Es muss niemand mehr um sein Überleben kämpfen, er wird, wenn es sein muss, von staatswegen versorgt, der Bürger hat das kämpfen verlernt, er zieht sich zurück und verlangt, dass der Staat für ihn sorgt,sich um ihn kümmertund ihm die existenzielle Angst abnimmt. Die Gerichte beschäftigen sich mehr mit Bürgerrechten und Minderheitsrechten als mit wirklichen Straftaten. Dies macht aber eine Gesellschaft satt, träge, anfällig und bald dekadent.

Wenn wir nun davon ausgehen, dass die künstliche Intelligenz, die heute in den Laboratorien Kaliforniens, Indiens und auch schon Chinas entwickelt wird, mehr und mehr die Funktionen der Menschen übernehmen können, und gleichzeitig die Menschen immer älter werden und sich derzeit immernoch weiter vermehren, so muss gefragt werden, wie dies zukünftig funktionieren soll? Aus derzeitiger Sicht gibt es immer weniger Nachfrage nach Arbeitskräften, sei es in der Industrie in der Dienstleistung oder im Handel, viele Aufgaben können total informatisiert und elektronisch gesteuert werden. Was wird dann aus den Milliarden Menschen? Man benötigt sie vielleicht nur noch zum Konsum. In diese Richtung ging auch der, allerdings vorerst abgelehnte, Gesetzentwurf in der Schweiz, nach einem Volkseinkommen. Damit der Wirtschaftskreislauf funktioniert muss produziert und verkauft und ausgeliefert werden, dies alles können elektronische Systeme durchführen, der Mensch muss nur noch konsumieren, damit der Kreislauf erhalten bleibt.

 Abschluss:   

Zum Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich die Welt in einer Phase des Umbruchs und der Veränderung. Dies geschieht mit einer bisher nie gekannten Geschwindigkeit. Bereits Vorhersagen für die nächsten zehn Jahre, wie das fahrerlose Fahrzeug, die Gesundheitsdiagnose mittels des Handys oder die Behebung von Krankheiten mittels Implantierung von chips, die Informationsübermittlung ohne Tasten, die Schulausbildung online, die privaten Reisen ins Weltall und zu anderen Planeten. All das wirkt noch unwirklich und futuristisch, aber es wird kommen. Und die Kriege der Zukunft? Niemand sollte daran glauben, dass der Mensch, und besonders der Politiker, friedlicher wird. Kriege werden ebenfalls elektonisch ausgeführt, Hollywood zeigt dies in seinen Filmen längst. Ein Land kann rasch erledigt werden, indem man seine Energieversorgung oder seine Kommunikationslinien lahm legt.

Bleibt zu hoffen, dass die eigentlich gefühlslosen Programme die solche Kriege steuern sollen von einem positiv denkenden Programmierer erstellt werden, der im kritischen Fall eine positive Endlösung eingebaut hat, damit letztlich nicht der gesamte Globus im Universum durch einen großen Knall verschwindet.

Im September 2016

*Eckhard Ernst Kupfer ist deutscher Journalist, Direktor des Martius-Staden-Instituts in São Paulo, Herausgeber der Jahrbücher des Instituts, Mitautor von “Fünf Jahrhunderte deutsch-brasilianische Beziehungen”, Kommentator der Radiosendung AHAI – Die deutsche Stunde der Gemeinden > Block 05 und Kolumnist bei www.brasilalemanha.com.br.
E-Mail: ekupfer@martiusstaden.org.br