Kaum 2 Kilometer von meinem Arbeitsplatz entfernt liegt die Favela Paraisópolis. Mit ihren 100.000 Einwohnern könnte sie ein eigener Stadtteil sein, wenn sie nicht mitten im Herz des vornehmen Stadtteils Morumbi liegen würde. Entstanden ist sie, als in den 1970er Jahren immer mehr Menschen aus dem Nordosten anreisten um dort der Armut und Arbeitslosigkeit zu entgehen, denn in Morumbi gab es genügend Nachfrage nach Hausangestellten, Pförtnern, Wachpersonal, Chaffeuren und auch nach Arbeitern am Bau, denn gebaut wird in diesem Stadtteil bis heute, ohne Unterbrechung. Um keine langen Wege zurücklegen zu müssen, besetzten die Neuankömmlinge ein freies Gelände im Tal zwischen der Avenida Giovanni Gronchi und der Avenida Morumbi.
Zunächst waren es Hütten aus gebrauchtem Holz, heute sind fast alle Häuser aus Ziegelsteinen gebaut und es gibt auch einen Immobilienmarkt der Anmietung sowie An- und Verkauf regelt. Es gibt auch Licht, Wasser und einen frunktionierenden Einzelhandel. Die Stadtverwaltung hat ein SUS-Ambulatorium und ein Kulturzentrum erbaut. Was sich aber wie eine Wanze auch dort eingenistetet hat, ist der Drogenhandel und damit die Kriminalität, deshalb taucht auch immer wieder die Polizei auf, die an verschiedenen Zugängen zur Favela ihre Posten hat.
Ein großes Problem sind jedoch die Jugendlichen, die häufig nicht zur Schule gehen und dann schon gar keine Arbeit finden, obwohl einige Privatschulen des Stadtteils Kinder aus den Favelas kostenlosen Unterricht erteilen. Was aber wiederum funktioniert sind Straßenfeste mit lauter Musik, Alkohol und Drogen, bailes de funk genannt. Solch ein Fest fand am letzten Samstag statt und zog über fünftausend Besucher aus ganz São Paulo an. Darunter mischten sich auch zwei Schützen die vorher den Polizeiposten angegriffen hatten und verfolgt wurden. Diese Tätersuche führte zu einer Panik. Bei der Flucht durch die engen Gassen wurden neun Jugendliche zu Tode getreten.
Sofort verbreitete sich die Nachricht und seitdem wird sie in allen Kanälen verbreitet: Die böse Polizei hat einmal wieder zugeschlagen und die Tragödie verursacht. Niemand fragt ob solch ein öffentlicher Ball genehmigt war, ob man vorher Sicherheits- und Krankenposten angefordert hat, wie es bei jeder Veranstaltung üblich ist.
Wenn man jemand die Schuld zuschieben kann, dann der Stadtverwaltung von São Paulo, dass sie seit zehn Jahren tatenlos zusieht, dass solch eine ungeordnete Veranstaltung stattfindet und nichts unternimmt um etwas Sicherheit zu bieten. Es gäbe genügend freie Grundstücke in Paraisópolis die mit geringem Aufwand zu Festplätzen mit entsprechender Struktur ausgebaut werden könnten.
Aber wieder einmal kommt das große Lamento wenn es zu spät ist.
*Eckhard Ernst Kupfer ist deutscher Journalist, Direktor des Martius-Staden-Instituts in São Paulo, Herausgeber der Jahrbücher des Instituts, Mitautor von “Fünf Jahrhunderte deutsch-brasilianische Beziehungen”, Kommentator der Radiosendung AHAI – Die deutsche Stunde der Gemeinden > Block 05 und Kolumnist bei www.brasilalemanha.com.br – Notícias.
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